ERINNERUNG AN MORGEN:
Neue und alte Geschichten

Spuren menschlichen Miteinanders: Die Künstlerinnen und Künstler der Kunstwerkstatt der Lebenshilfe zeigen Visionen eines möglichen Morgen. Ihre Bilder und Objekte spiegeln unser Sehnen: Feste und Begegnungen, Gesten und Umarmungen, friedliche Idyllen. Und doch: Es muss nicht alles werden, wie es war.

Die Ausstellung und ihre Künstler

Von Ana Sous, Kuratorin

Es ist ein herrliches Gewimmel, das Sürejja Durovska heraufbeschwört: Menschen, Vögel und Hasen bevölkern ihre Bildwelten, manche davon sitzen in Kaffeetassen oder sind mit Musikinstrumenten behangen, manche tanzen, manche nehmen Kontakt zueinander auf, beäugen einander von oben bis unten. Der allgegenwärtige Seitenblick ihrer Figuren und ihr eigenartiger, zeremonieller Ernst geben dem rauschenden Fest eine fast surreale, Alice-in-Wunderland-eske Dynamik.

Ohnehin scheint uns der Gedanke an Feste gerade mehr als surreal. Seit über einem Jahr sind wir im Ausnahmezustand – ein Jahr, in dem wir gelernt haben, mit einem Virus zu leben, das unser Bedürfnis nach Nähe, nach direktem Austausch und menschlichen Berührungen, nach gemeinsamem Lachen und Feiern weitgehend negiert. Umso erfrischender sind diese Bilder voller Geschichten von Festen und Begegnungen, von menschlichen Gesten und Gefühlen, von Spuren eines lebendigen Miteinanders. Die Werke der Ausstellung ERINNERUNG AN MORGEN entstanden sowohl im Laufe des letzten Jahres als auch in der Zeit davor, sie alle aber spiegeln ein Leben, das zur Zeit auf Eis legt – auf die eine oder andere Weise.

In Lisa Gollers Zeichnungen finden wir uns inmitten von Personengruppen wieder. Dicht an dicht drängen sich Menschen jeden Alters in den Bildraum und scharen sich mit neugierigen bis provokanten Blicken um die imaginäre Position des/der Betrachtenden wie um eine Kameralinse. Und ganz richtig: Lisa Gollers Protagonisten entlehnt sie der Reisefotografie, doch verfremdet sie die fotografischen Vorlagen mit hellerem oder dunklerem Bleistiftstrich und eng schraffierten Flächen zu fast comichaften, plakativen Figuren, die weder an Tiefe noch an Assoziationen an die Ferne entbehren.

Dagegen grenzen sich Daniel Abrahamjans Landschaftsbilder ab, die zwar ebenfalls auf ferne Länder anspielen, durch ihre sanfte, neblige Farbgebung und Menschenleere aber seltsam entrückt wirken – ein Eindruck, der durch melodische Titel wie Singende Wüste noch verstärkt wird. Auch seine Pflanzenzeichnungen in der Ausstellung sind zwar frühlingshaft und zart, werden aber durch die schwarz-weiße Strenge und die duftige Bleistiftführung verfremdet und erhalten so eine zusätzliche ästhetische Qualität, die an Fotogramme erinnern mag.

Dabei sind uns Natur und Pflanzen in diesen Tagen wohl vertrauter als jemals zuvor: Wie viele Kilometer hat jede:r von uns in den letzten Monaten bei Spaziergängen zurückgelegt? Schließlich waren die Wanderungen durch Wälder, Parks und Straßen eine der wenigen Möglichkeiten, Freund:innen zu treffen und sich auszutauschen. Zumal der Mensch in der Natur seit jeher Entspannung, Ruhe und Zuversicht findet.

Diese Empfindungen begleiten auch Elke Schuberts naturalistische und freundlich-helle Zeichnungen und Aquarelle. Vögel, Blumen und Pflanzen sind einige ihrer bevorzugten Motive und erschaffen heile Idyllen. Die Gruppe von Adlern, die stolz dem Blick des/der Betrachtenden standhalten, ist bemerkenswert buntgefiedert. Das Bild entstand im Januar diesen Jahres. Die Vögel strotzen vor Kraft und Selbstbewusstsein – und stehen damit für Stärke und Zuversicht.

Dass es bei all der idyllischen Ruhe, die wir in der Natur suchen, neben den offensichtlichen Bäumen, Büschen und Blüten, Vögeln und Eichhörnchen auch viel Unbekanntes zu entdecken gibt, darauf verweisen die mysteriösen Artefakte von Gertrud Grotenklas. Aus Draht spinnt sie filigranste Strukturen organischen Charakters. Gefüllt mit Pflanzenteilen werden diese Kokons zu kostbaren Behältnissen fragiler Schätze. Die fein schraffierten Gespinste eröffnen eine Welt des Mikrokosmos, zu der wir Menschen normalerweise keinen Zugang haben.

Zurück in menschlichen Größenordnungen beendet der/die Pandemie-Spazierende den Ausflug in die Natur. Die Kulisse für ein ausgelassenes Beisammensein danach liefern die Stillleben von Elisabeth Paulus. Ihre Darstellungen von reich gedeckten Tischen und Kaffeetafeln verweisen auf geselligere Zeiten, zeugen von menschlichem Miteinander, in der sich Freund:innen Speisen und Luft teilen, miteinander lachen und sich einander anvertrauen.

Situationen wie diese – ein entspanntes Zusammensein ohne besonderen Anlass – sind zur Ausnahme geworden. Dabei geht in der Werkstatt der Künstlerinnen und Künstler die Arbeit auch in diesen Tagen weitestgehend normal weiter. Ein Besuch in der geschäftigen, lebendigen Kunstwerkstatt verschafft dem Gast ein für paar Momente Ablenkung vor der Welt da draußen, täuscht aber darüber hinweg, dass diese Zeit auch für die Künstler:innen von Entbehrungen geprägt ist.

Wir alle vermissen Zwischenmenschliches: Das Gefühl der Geborgenheit innerhalb der Gruppe von Freund:innen, das Spüren einer freundlichen Hand auf der Schulter, das Köpfe-Zusammenstecken mit Vertrauten. Die Körperlichkeit des Anwesend-Seins steht in krassem Kontrast zur Flachheit auf dem Videokonferenz-Screen. Werden wir uns wieder an die Imperfektionen unseres Gegenüber gewöhnen können, nachdem wir uns über Monate an den Weichzeichner der Videocalls gewöhnt haben?

Guido Källers Frauenportraits erinnern daran, wie viel Schönheit in der Variation liegt. Seine Galerie von Frauenköpfen spiegelt Schönheitsideale, feiert aber Abweichungen und Details ebenso wie das Versprechen tiefer Blicke.

Ein Fest zwischenmenschlicher Zuneigung sind die farbgewaltigen Blätter von Michelle Arnold, die sie in Flächen verschiedener Farben und Formen strukturiert und aus den entstehenden Kacheln Figuren und Symbole wie grafische Herzen herausarbeitet. Stark beeinflusst durch die Popkultur und Geschichten von Abenteuern und Freundschaft, färbt sie ihre Bilder plakativ ein und spielt mit Kontrasten und Gegensätzen.

Ebenso intensiv, doch ungleich wehmütiger ist die Zeichnung eines von Rosen umrankten menschlichen Herzens von Brigitte Scheich. Die Begeisterung der Künstlerin für naturnahe Bildmotive wie Pflanzen und Tiere klingt in diesem kürzlich entstandenen Werk an und mischt sich doch deutlich mit Thema der romantischen Sehnsucht.

Tosh Maurer beschäftigt sich in seinen Arbeiten ebenfalls immer wieder mit Gefühlen und menschlichen Regungen. Ein aktuelles Werk geht zurück auf den Text eines Liebesliedes, den er in seinen Stil der „freien Kalligraphie“ übersetzte. In seinen Bildern werden Buchstaben und Worte neu zusammengesetzt, verschränkt und überlagert. Die entstandenen Muster und Strukturen ermöglichen freie Assoziationen. Neue Sinnzusammenhänge manifestieren sich in den Buchstaben und werden zu Bildern, zu beobachten etwa in den beiden Arbeiten im Obergeschoss, in dem das Wort zum Schmetterling wird.

Kunst ist Sprache und Sprachrohr zugleich, sie dient dazu, gesehen, gehört und verstanden zu werden.

Die besondere Funktion von Kunst, nicht nur das Eigenleben des Individuums sichtbar zu machen, sondern auch Ideen und Weltanschauungen hervorzubringen, macht ihre Vertreter:innen in der öffentlichen Wahrnehmung häufig zu Angehörigen einer Randgruppe. Dies wurde in der Krise besonders deutlich: Künstler:innen und andere Kulturschaffende gelten nicht nur nicht als systemrelevant, sie scheinen auch irgendwo außerhalb des Systems zu stehen, was sowohl die Faszination als auch das Unverständnis von Entscheidungsträger:innen hinsichtlich der prekären Lage dieser Berufsgruppen erklärt.

Nicht nur in pandemischen Zeiten kämpfen Menschen abseits der Mehrheitsgesellschaft um Sichtbarkeit, um die Anerkennung ihrer Relevanz in gesamtgesellschaftlichen Prozessen und nicht zuletzt um die Steuerung ihrer eigenen Narrative.

Und welche Kraft diese haben, davon zeugen die Werke der Künstlerinnen und Künstler der Kunstwerkstatt der Lebenshilfe. Sie sind voll von scharf beobachteten Eindrücken und ehrlichem Ausdruck – und vor allem voll von Geschichten, die gerade in jenen im letzten Jahr entstandenen Bildern fast prophetisch anmuten (wenn man dieses große Wort bemühen will). Denn als Außenseiter:innen geltende Menschen sind immer auch Indikatoren für gesellschaftliche Dynamiken und Gegebenheiten, für Missstände und Entwicklungen jeder Art und – daraus abgeleitet – für  notwendige Veränderungen.

Carolin Rinker erschafftvisuelle Erzählungen weiblicher Hauptfiguren, deren einzelne Bildelemente sie durch Stickereien hervorhebt und miteinander verknüpft oder collagenhaft überlagert. Durch ihre Verbindungen und Überschneidungen treten diese Einzelfiguren miteinander in Korrespondenz.

Lars Otten strukturiert die Welt und ihre Phänomene in farbige Leerflächen und kleinteilige, rhythmische Linienmuster. Zeichnerisch scannt er ab, was sein Interesse geweckt hat, seien es Menschen, Tiere oder Architekturen. Die Menschen in seinen Werken sind von zahlreichen Hüllen aus schwarzen Linien umfangen, Bewegungsradius und Schutzschicht zugleich. So erkundet und erschafft er gleichsam seine eigenen Wirkungsräume.

Besonders dicht in ihren Erzählungen sind die feinen Zeichnungen von Annika Sachtleben, die komplexe Geschichten behandeln und auch vor weltpolitischen Themen nicht zurückschrecken. Grotesk verschränkte Figuren mit langen Fingernägeln sind ebenso häufige Bildelemente wie altertümliche Möbel und Maschinen und kleinteilige Muster. Es lohnt ein Blick auf den Titel, um Inhalte zu erschließen, dann eröffnen sich faszinierende detaillierte Zusammenhänge. Eine besondere Möglichkeit, eine ihrer Arbeiten neu zu erfahren, ist die interaktive digitale Installation im Obergeschoss.

In den Werken der Künstlerinnen und Künstler spiegeln sich Interessen und Sehnsüchte, die stellvertretend für unsere eigenen stehen können. Wenn die Bilder zu uns durchdringen, können sie uns aufzeigen, was war, was hätte sein können, aber vor allem auch: Was (wieder) sein wird.

Das Moment des (Er-)Schaffens wird durch viele Künster:innen seit jeher thematisiert. In der Ausstellung ERINNERUNG AN MORGEN tritt dies besonders deutlich hervor in den Architekturdarstellungen, die verschiedener nicht sein könnten.

Ozan Aktaş verfügt über ein beeindruckendes Bildgedächtnis, mit dem er Architekturen detailliert und in den richtigen Proportionen wiederzugeben weiß. Freihand führt er die geraden Linien, die Winkel und Ornamente des Aachener Doms aus und erinnert dabei sämtliche Bauteile und umliegende Strukturelemente. Eine Unterscheidung zwischen oben und unten ist dabei nebensächlich, das Spiel mit den Perspektiven macht ihn zum Herrn über den Bildraum, die Entscheidung liegt bei ihm.

Ganz anders dagegen die herrlich windschiefen Architekturzeichnungen von Jürgen Kirschbaum, dessen feine Linien und Punkte Ausdruck einer organischeren Arbeitsweise sind, die den Schwankungen und Neigungen des menschlichen Körpers unterliegt. Die oft dargestellten herrschaftlichen Bauten von Theater über Kirche hin zu antiken Strukturen vermenschlichen geradezu. Der/die Betrachtende kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie sich die wankenden Gebäude unter seinen/ihren Schritten wohl verhalten mögen.

Die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung ERINNERUNG AN MORGEN zeigen auf, welches ungeheure Potenzial im künstlerischen Schaffen liegt. Die Kunstwerke sind gleichsam Chronisten einer Scharnierzeit zwischen einem „Davor“ und „Danach“ und Visionen für eine Zeit, die nicht lediglich das Alte kopiert, sondern neue Wege des Seins und des Miteinanders findet. Jede/r der Künstler:innen trifft in seinen/ihren Arbeiten eine spezifische und relevante Vorhersage für ein mögliches Morgen.

Mehr über die Kunstwerkstatt der Lebenshilfe willsosein.

Die Ausstellung ist ab sofort beendet.
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